Jeden Dienstagabend um halb zehn sieht eine Million der insgesamt vier Millionen Haushalte auf Taiwan die Sendung "Frauen, Frauen", eine der derzeit beliebtesten Fernseh-Talkshows. Sie ist deshalb so beliebt, weil sich hier eine Möglichkeit bietet, über Themen zu diskutieren, die persönlicher Natur sind oft mit Sex zu tun haben und eben normalerweise nicht offen angesprochen werden. Es geht um Seitensprünge, Sex vor der Ehe, Scheidung, uneheliche Kinder, sexuelle Phantasien und Erwartungen sowie sexuelle Belästigungen und Diskriminierung am Arbeitsplatz.
Diese von "Frauen, Frauen" aufgegriffenen Probleme und die lebhaften spontanen, manchmal gar hitzigen Diskussionen, die die Sendung unter ihren Zuschauern provoziert, reflektieren einen dynamischen Trend in der heutigen Gesellschaft Taiwans: Das Verhältnis zwischen Mann und Frau verändert sich auch unter Chinesen, vielleicht nicht so tiefgreifend wie im Westen aber genug, um an den Grundfesten einer Kultur zu rütteln, die von Außenstehenden oft als konservativ, zurückhaltend und sogar repressiv erlebt wird.
Die traditionelle Rollenverteilung mit dem Mann als Brotverdiener und der Frau mit den Aufgaben des Haushaltens und Kindergroßziehens ist tief verwurzelt. Und doch gibt es neue Definitionen von der Rolle der Frau, da chinesische Frauen heute eine bessere Ausbildung erhalten, berufstätig werden, mit Männern konkurrieren, dabei mehr als nur ein Taschengeld verdienen und schließlich finanziell unabhängig werden. Chinesische Frauen sträuben sich zunehmend gegen die überkommene Ansicht, daß die Frau dem Mann unterlegen sei, sich in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern passiv und unterwürfig verhalten und ganz allgemein dem Mann immer eine Freude sein soll. Doch nur eine verschwindend geringe Zahl von Frauen auf Taiwan reagierte begeistert auf die Phase der Frauenbewegung, die in den sechziger Jahren von den Vereinigten Staaten ausging, und machte sich ohne Abstriche deren Ziele der Gleichberechtigung und Chancengleichheit zu eigen.
Den chinesischen Männern dämmert, daß sich ihre Frauen, Töchter und Kolleginnen verändern, und sie versuchen, sich an die "neue Frau" zu gewöhnen, ohne dabei jedoch ihr Ego aufzugeben. Immer mehr Ehemänner, die von der Tradition als die Herren im Haus erachtet werden, helfen ihren ebenfalls berufstätigen Frauen bei der Hausarbeit. Die Diskriminierung der Geschlechter im Beruf verschwindet allmählich auf vielen Gebieten, zusammen mit Stereotypen bei der Berufswahl, und Frauen, die Karriere machen, stehen heute weit häufiger im Rampenlicht der Öffentlichkeit als zuvor. So gibt es in den hiesigen Fernsehnachrichten mehr weibliche als männliche Sprecher.
Selbst typische Frauenberufe akzeptieren nun zunehmend Männer. Beispielsweise wächst die Zahl der Krankenpfleger in den Schwesternschulen. Doch kann sich die Gesellschaft nur langsam von dem alten Stereotyp der Krankenschwester verabschieden. Für die Krankenpfleger auf Taiwan ist es schwierig, eine Anstellung in einem Krankenhaus zu finden. Die Krankenhausverwaltungen bevorzugen Krankenschwestern, so Chang Chueh (張珏), Professorin für Gesundheitswesen und Koordinatorin des Programmes für Frauenforschung an der Nationalen Taiwan-Universität. "Das ist ein Beispiel für berufliche Diskriminierung aufgrund des Geschlechts."
In der Tat ist es schwierig, die Rollen und ihre Funktionen, wie sie die Tradition vorgegeben hat, zu durchbrechen. So ist zum Beispiel nur chinesischen Männern die Teilnahme an den aus der T'ang-Zeit (618-907) überlieferten alljährlichen Zeremonien anläßlich des Geburtstages von Konfuzius erlaubt. Auf Taiwan leitet der Direktor des Amtes für Bürgerangelegenheiten der Taipeier Stadtregierung die Feierlichkeit. Und das waren immer Männer, bis dann im Jahre 1985 Wang Yueh-ching der erste weibliche Direktor dieser Behörde wurde. Folgerichtig wurde sie noch in demselben Jahr die erste Frau, die der Ausführung der traditionsgebundenen Rituale anläßlich des Geburtstages von Konfuzius präsidierte.
Nachdem Wang damit einen Präzedenzfall geschaffen hatte, wurde letztes Jahr einer weiteren Tradition ein Ende gesetzt. Musikerinnen in Kostümen, die in all den Jahrhunderten ausschließlich von Männern getragen worden waren, spielten bei der Darbietung klassischer Zeremonialmusik zum Geburtstag des Konfuzius mit. Ein Beamter aus dem Amt für Bürgerangelegenheiten erklärte hierzu, daß es nicht genügend männliche Musiker gegeben habe.
Alte Einstellungen scheinen sich zu verändern. Anfang 1990 fragte die "Minsheng-pao" (民生報), eine der auflagenstärksten Zeitungen auf Taiwan, den chinesischen Mann von heute, welche Erwartungen er an die Frauen hat. Das Ergebnis zeigte, daß beinahe zwei Drittel der 300 Befragten nichts dagegen hätten, wenn es die Frau ist, die den Flirt beginnt. Das war deshalb überraschend, weil noch wenige Jahre zuvor den jungen Frauen eingeschärft worden war, daß es für sie erniedrigend sei, die Initiative zu ergreifen, und daß eine anständige Frau so etwas nicht tut.
Möglicherweise repräsentierten die interviewten Männer das eher progressive Segment der Gesellschaft, da die jahrhundertealte Vorstellung, der "Mann sei überlegen und die Frau sei ihm unterlegen" immer noch die Interaktionsmuster zwischen Mann und Frau beherrscht. "Das paßt überhaupt nicht zu dem Bild von einer modernen Gesellschaft, die sich aufgeschlossen gibt", kommentiert Hsu Shen-shu (徐慎恕), die Gründerin der "Homemakers' Union and Homemakers' Foundation", eine Initiative, die chinesischen Hausfrauen Hilfe zur Selbsthilfe bietet, indem sie ihnen Beteiligung am Engagement für das Allgemeinwohl ermöglicht.
Hsu nennt ein klares Beispiel dafür, daß die Gesellschaft Männer immer noch für besser als Frauen hält. Frauen, die ein Kind zur Welt gebracht haben, werden immer gefragt, ob das Kleine ein Junge oder Mädchen ist. "Falls es ein Junge ist, folgen spontane und herzliche Gratulationen", erläutert sie. "Aber bei einem Mädchen hält man tröstende Worte für angebracht."
Nach der Verfassung haben alle Männer und Frauen gleiches Recht auf Bildung. Doch obgleich dies vom Gesetz garantiert ist, wird es von der Realität nicht vollständig reflektiert. Statistiken des Erziehungsministeriums zeigen, daß von 1,4 Millionen als Analphabeten eingestuften Menschen etwa 70 Prozent Frauen im Alter von über fünfzehn Jahren sind. Die verbleibenden 30 Prozent sind Männer über sechzig. Wegen des elterlichen und sozialen Drucks, möglichst schon mit Anfang Zwanzig zu heiraten, setzen nur wenige Frauen ihre Ausbildung an einem universitären Graduiertenkolleg fort. "Wenn du noch weiter studierst, wirst du eine 'alte Jungfer' werden. Kein Mann will eine Frau heiraten, die gescheiter ist als er", ist ein gerne gegebener Ratschlag. 1990 kam in den Magister-Studiengängen nur eine Frau auf vier Männer, und von 3799 Studenten, die an ihrer Doktorarbeit saßen, waren nur 599 Frauen.
Obwohl die Zahlen in der Arbeitswelt ausgewogener sind, sind die Frauen der Meinung, daß sie auch beim Gehalt, bei den Sozialleistungen, den Pensionszahlungen und Aufstiegsmöglichkeiten nicht gleichberechtigt behandelt werden. Eine Umfrage des Innenministeriums zeigt, daß die Hälfte der berufstätigen Frauen Taiwans der Ansicht ist, sie erhielten nur die Hälfte oder zwei Drittel des Gehaltes, das Männer für dieselbe Tätigkeit bezögen. Auch scheint es, daß Aufstiegsmöglichkeiten wegen familiärer Pflichten beschränkt sind. Nahezu eine Million Frauen gaben 1989 ihre Anstellung auf, um zu heiraten. Weitere 368 000 gingen, weil sie schwanger waren.
Dieselben Statistiken weisen aus, daß 70 Prozent der Frauen unter männlicher Leitung arbeiten. Obwohl immer mehr Frauen der Sprung von der Angestelltenebene zum Eintritt in die "Perlenketten-Klasse" - wie die Gruppe der Frauen genannt wird, die es ins Management geschafft haben - gelingt, dominieren die Männer die höheren Positionen in Fabriken und Büros. Weibliche Manager finden es sehr schwierig, Zutritt zum inneren Zirkel männlicher Entscheidungsträger zu erlangen.
Grace Yuan (袁永華)hat sich von der Sekretärin zum Manager hochgearbeitet, indem sie sich zusätzliche Qualifikationen erworben und ihre Position durch mehrere Stellenwechsel verbessert hat. "Ich habe noch nie eine Frau in einem Vorstand sitzen sehen", sagt sie. Nach zehnjähriger Erwerbstätigkeit als Angestellte hat Yuan ihre eigene Beratungsfirma gegründet. "Mir war klar geworden, daß ich nicht mit Leuten konkurrierte, die etwa fähiger gewesen wären als ich, sondern gegen Leute, die die Qualifikation 'Mann' haben", begründet sie. Yuan erklärt dies damit, daß es zwar auf Fähigkeiten ankomme, die Männer aber mehr Möglichkeiten für Weiterbildung und Beförderung hätten.
Es gibt viele Frauen wie Yuan, die, frustriert von den geringen Aussichten auf Aufstieg, ihre Anstellung kündigen und sich selbständig machen. Zahlen der Nationalen Jugendkommission der Republik China zufolge lag der Anteil der Kredite für Geschäftseröffnungen, die an Frauen vergeben wurden, in den Jahren 1986 bis 1990 konstant bei 17 Prozent. Statistiken des Exekutiv-Yüans zeigen, daß im Jahre 1988 die Zahl der Eigentümerinnen von registrierten kleinen und mittelgroßen Firmen im Jahre 1988 mehr als 30 000 betrug.
In der Vergangenheit war es die Scheidung oder der Tod des Ehemannes, die eine Frau veranlaßten, sich geschäftlich selbständig zu machen. Heute wollen viele Frauen aus eigenem Antrieb unternehmerisch tätig werden. Aber warum will eine Frau ihre häusliche Zurückgezogenheit aufgeben und wegen des Aufbaus eines eigenen Geschäftes Konflikte mit dem Ehemann riskieren? Warum entscheidet sie sich gegen die Sicherheit einer festen Anstellung und nimmt die Bürde der unternehmerischen Eigenverantwortlichkeit und die Gefahr eines Konkurses auf sich? Yuan hat da einige Antworten. Ihre Beratungsfirma Interplan offeriert Organisationsberatung und Kurse für Leute, die sich selbständig machen wollen. Die Mehrheit ihrer Kunden sind Frauen.
Geschäftsbereiche wie Teehäuser und Cafés werden traditionell mit Frauen assoziiert. Doch heute haben die Frauen das Zeug dazu, sich auch in ganz anderen Bereichen zu behaupten.
"Viele Frauen sind sich heute bewußt, daß auch sie das Zeug dazu haben, geschäftlich erfolgreich zu sein", erklärt Yuan. "Hinzu kommt das Verlangen nach finanzieller Unabhängigkeit. Etliche von ihnen möchten auch mit einem Zweiteinkommen einen Beitrag zum Familienhaushalt leisten, und die Selbständigkeit gibt ihnen mehr Flexibilität. Diese Frauen sind meistens sehr fürsorgliche Ehefrauen und Mütter."
Yuan verweist auch darauf, daß die meisten von Frauen gegründeten Unternehmungen nicht über ein Anfangsstadium hinausgehen. "Frauen suchen sich normalerweise einen Bereich, der von jeher mit Frauen assoziiert wird wie zum Beispiel die sogenannten 'romantischen' Geschäfte - Teehäuser, Cafés und Blumenläden. Zunehmend gehen Frauen jedoch auch in die Werbung, Design, Public Relations und die Massenmedien, und sie machen ihren Weg."
Noch vor fünf Jahren war die Mehrzahl der Unternehmerinnen Anfang Dreißig bis Mitte Vierzig. "Heute ist das Durchschnittsalter jedoch im Sinken begriffen", berichtet Yuan. "Zu unseren Kunden zählen Frauen um die Mitte Zwanzig. Sie würden überrascht sein von der Energie und der Ernsthaftigkeit, mit der sie ihre Geschäftsidee angehen. Aber manchmal neigen sie zu Blauäugigkeit. "
Der unternehmerische Schwung erhält oft einen Dämpfer durch die emotionale Belastung, unter der eine Frau bei dem beständigen Versuch leidet, die familiären Beanspruchungen mit den unternehmerischen Verantwortlichkeiten im Gleichgewicht zu halten. Vielen chinesischen Männern wäre es lieber, ihre Frauen würden zu Hause bleiben und ihre Pflichten als Frau und Mutter erfüllen. Doch die hohen Lebenshaltungskosten haben das Zweiteinkommen der Frau unabdingbar werden lassen. Deshalb haben Frauen, deren Ehemänner genug für den Unterhalt verdienen, Schuldgefühle im Hinblick auf ihre eigenen Karrieren oder Unternehmen. Auch leidet das Ego ihrer Ehemänner. Yuan nennt das Beispiel einer Klientin, die sich sehr erfolgreich geschäftlich betätigt hatte. Ihr Ehemann stellte sie vor die Entscheidung zwischen ihrem Unternehmen oder ihrer bei der Ehe. "Sie hat sich natürlich zugunsten der Ehe entschieden", berichtet Yuan.
Sexuelle Diskriminierung ist auch beim Staat eine Tatsache. Bei einigen Eintrittsprüfungen für Beamten sind nur Männer zugelassen, zum Beispiel für die Laufbahn eines Protokollchefs oder Diplomaten. Andere Tests begrenzen mit Hilfe einer Quote die Zahl der Teilnehmerinnen stark zugunsten der Männer. Gegenwärtig sind weniger als ein Drittel der 540 000 Staatsdiener weiblichen Geschlechts, welche Statistiken der Zentralen Personalverwaltung zufolge im Schnitt ein höheres Bildungsniveau haben. Von den Frauen haben 34 Prozent einen Universitätsabschluß, von den Männern nur 28 Prozent. Allerdings haben nur 1 Prozent der Frauen einen Magister- oder Doktorgrad erworben, im Gegensatz zu 28 Prozent der Männer. Die Eroberung von Spitzenpositionen bleibt der Zukunft vorbehalten, da es nur in 0,5 Prozent aller staatlichen Organisationen eine Frau ganz nach oben schaffte.
Die Ernennung von Shirley Kuo zur Finanzministerin im Jahre 1988 und somit zum ersten weiblichen Kabinettsmitglied brachte den großen Durchbruch. Kuo, bekannt als "Eiserne Lady" bzw. Taiwans Margaret Thatcher, ist sechzig Jahre alt, verheiratet und hat einen beeindruckenden universitären Hintergrund. Bevor sie 1973 als stellvertretende Vorsitzende des Rates für Wirtschaftliche Planung im Exekutiv-Yüan ins Kabinett berufen wurde, hatte sie im Fach Wirtschaftswissenschaften an der Universität Kobe in Japan promoviert und dann eine glänzende akademische Karriere auf Taiwan und in den Vereinigten Staaten durchlaufen. Gegenwärtig ist sie die Vorsitzende des Rates für Wirtschaftliche Planung und Entwicklung. Ob ihr andere Frauen diesen kometenhaften Aufstieg auf die Regierungsebene nachtun werden, bleibt allerdings noch abzuwarten.
Die Politik ist eine Domäne der Männer. Im Legislativ-Yüan sind unter 242 Abgeordneten nur 36 Frauen zu finden. Wenige Frauen kandidieren für ein Regierungsamt, und die Beteiligung von Frauen an politischen Entscheidungsprozessen bleibt verschwindend gering. Feministinnen neigen dazu, die geringe Zahl von Frauen in der Politik oder im höheren Verwaltungsdienst der Diskriminierung durch die öffentliche Meinung zuzuschreiben. Doch die Romanschriftstellerin Chu Hsiu-chuan (朱秀娟) sieht das anders. "Chinesische Frauen äußern im allgemeinen wenig Interesse an Politik", argumentiert sie. "Wie kann man dann die Gesellschaft oder die Regierung beschuldigen, die Frauen zu ignorieren?" Chu ist Verfasserin des Bestsellers "Karriere-Frau" über eine Chinesin, die alles erreicht hat: Erfolg im Beruf und Glück in der Ehe.
Tatsächlich haben die Frauen in vergangenen Zeiten den Vorgängen außerhalb ihres häuslichen Bereiches wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Aber auch hier gibt es Veränderungen. Eine Umfrage des Exekutiv-Yüans im Jahre 1982 ergab, daß nur 20 Prozent der Frauen auf Taiwan sich in der karitativen Nachbarschaftshilfe engagierte. Statistiken der Provinzregierung von 1988 zeigen jedoch, daß 55 Prozent der von der Regierung im Gemeindedienst tätigen Freiwilligen Frauen gewesen sind.
Frauen haben verschiedene Angelegenheiten selbst in die Hand genommen und spielen heute in der Öffentlichkeit eine aktivere Rolle als die Männer. Etliche der engagierten Bürgerinitiativen bestehen ausschließlich aus Frauen, und ihre Aktivitäten spiegeln nicht nur ihre Bemühungen um die Frauen, sondern um die Gesellschaft als Ganzes wieder. So hat die "Awakening Foundation" ein Programm "Erziehung zur Gleichberechtigung" gestartet, um im Erziehungssystem die althergebrachten Vorurteile über die Unterschiede zwischen den Geschlechtern auszumerzen. Die "Homemakers' Union and Foundation", welche mittlerweile zehn männliche Mitglieder hat, hat sich unterdessen für ein umweltschützerisches Bewußtsein stark gemacht. Die "Modern Women's Foundation" hat dem Geschäft mit dem Sex, das hierzulande blüht, den Kampf angesagt.
"In der Vergangenheit war der Aufgabenbereich der Frauenorganisationen darauf beschränkt, Frauen zu besseren Ehefrauen zu machen", erinnert sich Hsu von der "Homemakers' Union and Foundation". "Die Frauen von heute sind anders. Ihr Interesse erstreckt sich nun über den Bereich der Familie hinaus auf Angelegenheiten der Bürger und gesellschaftliche Probleme."
Nach Ansicht von Chang Chueh erinnert man sich der Frauen vor allem dann, wenn es um die Lösung eines bestimmten Problems geht. "Denken Sie zum Beispiel an die Aktion für Geburtenkontrolle. Vor vielen Jahren, als die Regierung ihre Politik der Familienplanung vorantrieb, wurde den Frauen gesagt, daß die Verhütung in ihrer Verantwortung läge. Das ganze Unternehmen wurde also nicht gestartet, um die Frauen von der Last des Kinderkriegens zu befreien, sondern um das Problem der Überbevölkerung in Taiwan zu lösen."
Jetzt werden die Frauen dazu aufgerufen, zur Überwindung der Knappheit an Arbeitskräften beizutragen. "Die Zulassung billiger Arbeitskräfte aus dem Ausland könnte viele soziale Probleme hervorrufen", erläutert Chang, "so daß die Regierung dazu neigt, ausländische Arbeiter außer Landes zu halten. Deshalb werden jetzt Frauen, gerade auch Hausfrauen, die noch niemals zuvor berufstätig waren oder schon vor längerer Zeit aufgehört haben zu arbeiten, ermuntert, wieder ins Erwerbsleben einzutreten. Niemals zuvor waren Hausfrauen in der Industrie willkommen."
Nirgendwo wird die veraltete Sichtweise, nach der Frauen den Männern unterlegen sind, deutlicher als im Zivilrecht. Kürzlich kündigte die Regierung an, daß ausländischen Frauen, die einen Chinesen geheiratet haben, umgehend eine Staatsbürgerschaft gewährt werden soll. Dieselbe Regelung schreibt jedoch im Falle eines ausländischen Ehemannes einer Bürgerin der Republik China eine dreijährige Wartezeit vor, bevor ihm die Staatsbürgerschaft verliehen werden kann.
Außerdem verlangt das Familienrecht von einer Ehefrau, für die Schulden ihres Gatten aufzukommen - für den umgekehrten Fall gibt es keine solche Regelung. Etliche Frauen haben tatsächlich für ihren ins Ausland geflohenen Ehemann Gefängnisstrafen verbüßen müssen. Auch legt das Familienrecht fest, daß das Vermögen einer Frau rein rechtlich unter der Aufsicht des Mannes steht, gleichgültig, ob es vor oder nach der Heirat erworben wurde. "Die Scheidung ist äußerst riskant für die Frau", folgert Chang, "weil sie dabei ihr Hab und Gut verlieren kann."
Noch schlechter sieht es nach der Scheidung aus, vor allem wenn sich die Frau finanziell nicht selbst versorgen kann. Das Scheidungsrecht verlangt vom Mann keine Unterhaltszahlungen, auch wenn er die Scheidung verschuldet oder sogar selbst beantragt hat. "Das erklärt, warum viele Hausfrauen, die niemals zuvor im Erwerbsleben gestanden haben, nach Beratung mit einem Juristen beschließen, die unglückliche Ehe weiterzuführen" .
Glücklicherweise wurden diese unfairen Bestimmungen im Jahre 1985 korrigiert, doch schützen die neuen Regelungen nur die Rechte und das Wohlergehen von Frauen, die nach 1985 geheiratet haben. Sie können Vermögen unter ihrem eigenen Namen verwalten und es im Falle einer Scheidung beanspruchen. Gemeinsames Eigentum kann zwischen Ehemann und Frau gleichmäßig aufgeteilt werden. Auch trägt die Frau keine Verantwortung für die finanziellen Verpflichtungen ihres Mannes mehr. Sie kann nach der Scheidung das Sorgerecht für ihre Kinder zugesprochen bekommen - aber nur, wenn der Ehemann einwilligt. Interessanterweise tauchten in der Presse nach Inkrafttreten der neuen Bestimmungen verschiedentlich Berichte über unglücklich verheiratete Männer auf, die es sich nicht leisten konnten, die Scheidung zu beantragen, weil ihren Frauen ein Großteil des Vermögens gehört.
Vor zehn Jahren kam es selten zu einer Scheidung, und den inhärenten Problemen des Scheidungsrechts, zum Beispiel dem Sorgerecht für die Kinder, den finanziellen Verantwortlichkeiten und der Aufteilung des Vermögens, wurde nicht soviel Beachtung geschenkt wie heutzutage. Ein Bericht des Sozialamtes der Stadtverwaltung Taipei zeigt, daß die Scheidungsrate in Taipei im letzten Jahr auf 3 Prozent gestiegen ist und damit beinahe doppelt so hoch liegt wie die von 1976 mit 1,8 Prozent.
Chai Sung-lin (柴松林), ein Professor für Demographie an der Nationalen Zentral-Universität, stellt in einer Studie über Scheidungshäufigkeiten fest, daß 1990 jedes fünfte Paar in Taiwan und jedes vierte Paar in Taipei geschieden wurde. Es wird davon ausgegangen, daß bis 1999 jedes dritte Paar geschieden werden wird und Taiwan schließlich mit der Scheidungsrate in westlichen Ländern gleichzieht.
Unvereinbarkeit der Charaktere wird oft als der Hauptgrund für eine Scheidung angegeben. Nun, da Frauen eine bessere Ausbildung genossen haben und etliche von ihnen in der Lage sind, finanziell auf eigenen Füßen zu stehen, betrachten sie eine Heirat nicht mehr als eine Versorgung auf Lebenszeit und halten die Redewendung "Wen immer du heiratest, dem mußt du auch folgen" für Unsinn. Sie sind weniger geneigt, ihren Stolz und ihre Tränen zu unterdrücken, als es ihre Mütter und Großmütter gewöhnlich waren.
Eine von "Warm Life", einer Frauenorganisation, die Frauen nach der Scheidung beim Neuanfang hilft, durchgeführte Studie über Scheidungen zeigt, daß 95 Prozent aller Scheidungen in Taiwan durch die "andere Frau" verursacht werden. In Taiwan ist nicht oft zu hören, daß eine Frau eine Affäre hat, möglicherweise, weil tatsächlich wenige Frauen eine außereheliche Beziehung eingehen, oder aber, weil ein Mann sein Gesicht verliert, wenn er zugibt, daß seine Frau mit einem anderen ins Bett gegangen ist. Huang Kuang-kuo (黃光國), ein Psychologie-Professor an der Nationalen Taiwan-Universität, gibt zu, daß die Untreue der Männer ein großes Problem ist, hält es jedoch für übertrieben, 95 Prozent aller Scheidungen darauf zurückzuführen.
Chu Hsiu-chuan meint, daß es für verheiratete Männer ein leichtes ist, mit einer anderen als ihrer Ehefrau intim zu werden. "Die meisten chinesischen Ehen beruhen nicht auf einer soliden Grundlage von Zuneigung, Verständnis und Vertrauen", sagt sie. "Wenn dann am Arbeitsplatz Versuchungen aufkommen, finden es Männer schwierig zu widerstehen." Chu ist über vierzig Jahre alt, verheiratet und hat die Liebe im modernen China zum Thema von 24 ihrer Romane gemacht.
Huang ist jedoch anderer Meinung. "Die meisten Leute heiraten heute frei und aus Liebe", hält er dagegen. "Von arrangierten Verbindungen ist heutzutage kaum noch etwas zu sehen oder zu hören." Huang verweist zudem darauf, daß Versuchungen auch deshalb so schwer zu widerstehen sei, weil sie in solcher Fülle gegeben sind - und das nicht nur am Arbeitsplatz. "Wo sonst kann man eine so hohe Konzentration von Sex-Etablissements sehen?", meint er. "Gehen Sie einfach irgendeine Straße im Zentrum Taipeis entlang: es ist einfach unglaublich, an wievielen Plätzen wie Herrenfriseurgeschäften, Cafés, Pianobars, Motels, KTV (Karaoke-Fernsehen) und MTV (Video-Fernsehen) alle Arten von sexuellen Angeboten verkauft werden. In manchen Gebieten der Stadt bestehen ganze Blocks ausschließlich aus solchen einschlägigen Örtlichkeiten. Taipei ist dabei noch nicht einmal am schlimmsten. Wenn Sie in den Süden in Städte wie Taoyuan, Taichung oder Kaohsiung gehen würden, würde es Sie geradezu umhauen!"
Gewalt ist ein weiterer Scheidungsgrund. Huang weist darauf hin, daß geprügelte Frauen schon lange ein Problem in Taiwan sind, vor allem in Familien, wo jede Entscheidung einzig vom Ehemann abhängt. Aber erst vor zwei Jahren wurde die Gesellschaft sich des Ausmaßes und der Schwere der Problematik bewußt, als Zentren für geschlagene Frauen ihre Pforten öffneten. Seit damals sind von diesen Einrichtungen über 600 Fälle aufgezeichnet worden, was belegt, daß Gewalt in der Tat eine Realität im Familienleben Taiwans ist.
"Die meisten Leute sehen das Problem nicht, weil sich das Familienleben heute vielfach in Einzelwohnungen abspielt", erklärt Huang. "Und was in den einzelnen Appartements vor sich geht, ist kaum zu bemerken. Früher lebte eine Großfamilie in einem Haus, und ein Mann konnte seine Frau nicht im Verborgenen verprügeln."
Scheidung betrifft auch jüngere Paare. Nach Chai's Report betrug das Durchschnittsalter der geschiedenen Männer früher 33 Jahre, das Alter, das in Taiwan als Beginn der Midlife-crisis gilt. Heute sind die meisten der geschiedenen Paare noch um Mitte zwanzig. Es sind im allgemeinen die Frauen, die die Scheidung einreichen.
Die Gesellschaft zeigt wenig Sympathie für geschiedene Frauen. "Es ist eine Schande für eine Frau, geschieden zu werden", meint Shih Chi-ching (施寄青), Gründerin von "Warm Life". "Sie wird von den Leuten in ihrer Umgebung unweigerlich als eine Versagerin betrachtet. Deshalb sind Taiwans geschiedene Frauen mehr mit emotionalen Problemen konfrontiert als die Männer." Shih verließ 1982 nach 13 Ehejahren ihren Mann und die beiden Söhne. Jetzt hat sie einen Adoptivsohn.
Shih weist darauf hin, daß die Scheidungsrate weit höher ist als die Anzahl der Wiederverheiratungen. "Die meisten chinesischen Frauen vermeiden eine neue Partnerschaft, weil sie Angst vor einem neuen Fehlschlagen haben", erklärt sie. "Geschiedene Männer dagegen neigen dazu, wieder zu heiraten."
Lee Yuan-chen (李元貞), Gründerin der "Awakening Foundation", erklärt dazu, daß die meisten Männer aus reiner Notwendigkeit wieder heiraten, weil sie daran gewöhnt sind, eine Frau um sich zu haben, die sie füttert, Kleider kauft und das Haus in Ordnung hält. "Wenn sie dann geschieden werden, geraten sie in Panik und wirken plötzlich wie hilflose Kinder, die ihre Mutter verloren haben", sagt sie.
Es ist für geschiedene Männer allerdings auch viel einfacher, wieder eine Frau zum Heiraten zu finden. Geld und Macht ist es, was sie nach Ansicht von Huang geschiedenen Frauen voraus haben: "In einer materialistischen Gesellschaft wie der Taiwans, wo es hart ist, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und finanzielle Sicherheit von überragender Bedeutung ist, kommt es dazu, daß Geld die Beziehung zwischen Männern und Frauen bestimmt. Leider sind die Frauen finanziell gesehen die Schwächeren, weil die Männer das Geld unter ihrer Kontrolle behalten. Und Geld macht einen Mann eben mächtig."
Eine der Folgen von Taiwans hoher Scheidungsrate ist die wachsende Zahl von männlichen Singles und vor allem von alleinstehenden Frauen, die eine Heirat für zu riskant halten. Grace Yuan ist über dreißig und damit um einige Jahre über das bevorzugte Heiratsalter einer Chinesin - dreiundzwanzig bis siebenundzwanzig - hinaus. Vorläufig hat sie keine Heiratspläne. "Viele der Frauen, die ich aus meiner Universitätszeit kenne, sind jetzt geschieden", sagt sie. "Das ist wirklich beängstigend. Mein Vater sagt manchmal zu mir: 'Vielleicht bist du unverheiratet besser dran.'''
Viele der Tan-shen Kuei-tsu (單身貴族) oder "alleinstehenden Vornehmen", so die Modebezeichnung, mit der die jungen Unverheirateten belegt werden*, sehen nicht einmal ein, warum sie heiraten sollten. Yuan hat viele Freundinnen, die über dreißig Jahre alt sind und nicht der Ansicht sind, daß eine Ehe die ganzen Probleme wert ist. Sie meint: "Sie erfreuen sich so sehr ihrer Freiheit, daß sie sich einfach keinen Grund denken können, weswegen sie eine andere Person in ihr Leben bringen sollten. Wozu sich das Leben kompliziert machen?"
Aber nicht alle der "alleinstehenden Vornehmen" bleiben aus freien Stücken alleine. Viele sind gezwungen, ihre Heirat auf später zu verschieben, bis sie sich die Gründung einer Familie und den Kauf einer Eigentumswohnung leisten können. Noch 1988 heirateten die Männer im Schnitt mit 26 und die Frauen mit 23 Jahren. Doch zu Beginn der neunziger Jahre verzögerten die hohen Lebenshaltungskosten sowohl für Frauen als auch Männer die Heirat bis Ende zwanzig bzw. Anfang dreißig.
"Eigentlich sollte nichts dabei sein, wenn jemand alleinstehend bleibt", meint Huang. Doch erklärt er, daß die Leute auf Taiwan noch immer in einer Tradition leben, die bestimmt, daß ein Mann heiraten muß, um den Familiennamen fortzuführen, und daß eine Frau ohne Ehemann keine Bleibe hat. "Viele Leute glauben noch, daß eine Frau nicht in ihrer Eltern Heim gehört, sondern in das ihres Ehemannes. Und wenn sie bis zu ihrem Tod unverheiratet bleibt, wird sie in der Unterwelt eine verlorene Seele sein."
"Schweigt!" scheint dieser General aus dem alten China den beiden Damen zu gebieten. Heute jedoch sind die Frauen auf Taiwan immer weniger geneigt, passiv zu sein und sich dem Mann zu unterwerfen.
Tatsache ist jedoch, daß es viele alleinstehende Männer und Frauen gibt und, wie Huang es formuliert, "sie alle physische Bedürfnisse haben. Also kommt es zur Frage der sexuellen Freizügigkeit." Es ist in Taiwans Gesellschaft bereits akzeptiert, daß viele der jungen Leute vorehelichen Geschlechtsverkehr haben. Zahlen gibt es jedoch keine, weil das Thema weiterhin nicht frank und frei diskutiert wird. Doch was einst verboten war und nur in Hollywood-Filmen vorkam, ist heute wie die Scheidung ein weitverbreitetes Phänomen. Vielfach versuchen es Paare gar nicht mehr zu verbergen, wenn sie unverheiratet zusammenleben, und manchmal akzeptieren es ihre Familien, Freunde und Kollegen sogar.
Huang versucht, das, was er als sexuelle Freizügigkeit ansieht, so zu analysieren: "Dies ist eine sehr materialistische Gesellschaft. Das blinde und rücksichtslose Streben nach materiellem Komfort bringt eine Gruppe gelangweilter und rastloser Leute hervor. Es gibt ein spirituelles Vakuum, das im Westen von der Religion gefüllt werden kann. Hier jedoch verlegen sich die Leute auf Sinnesvergnügen, um sich für ein leeres Leben zu entschädigen. Sie verletzen das gesellschaftliche Diktat, daß es keinen physischen Kontakt zwischen Mann und Frau geben solle, Ehepartner ausgenommen. "
Dieses Vakuum und diese Leere drückt eine 29jährige Frau aus, die noch nicht verheiratet gewesen ist und beruflich selbständig ist. Sie spricht sehr offen über sexuelle Beziehungen, bei denen es keinerlei Verpflichtung zur Heirat gibt. "Es würde mich nicht stören, einen jungen Liebhaber zu haben", erklärt sie. "Und ich bin nicht die einzige, die so denkt. Es gibt viele andere Frauen, die so wie ich einfach Spaß am Sex haben wollen, ohne in eine emotionale Falle zu laufen."
Es zeigt sich, daß nicht nur Erwachsene, sondern zunehmend auch Jugendiche verbotene Gefilde betreten. Dies wird noch durch einen leichten Zugang zu Pornographie und durch die intime Privatatmosphäre verdunkelter und gepolsterter Räumlichkeiten in KTVs und MTVs, wo ein Pärchen zu einem Video singen bzw. einen Film anschauen kann, verstärkt.
Im Dezember 1990 machte das Taipeier Zentrum zur Vorbeugung von Geschlectskrankheten eine Umfrage unter seinen Patienten und kam zu dem Ergebnis, daß ein Drittel von ihnen im Alter von 15 bis 19 Jahren und nahezu die Hälfte von ihnen im Alter von 20 bis 24 Jahren erstmals Geschlechtsverkehr hatte. Am bedeutsamsten dabei ist, daß ein Viertel erste sexuelle Erfahrungen mit Prostituierten gemacht hatte, der Rest dagegen mit Freunden, Klassenkameraden und Kollegen.
Ungefähr zur selben Zeit befragte die Abteilung für Öffentliche Gesundheit der Nationalen Taiwan-Universität 5000 Berufs- und Oberschüler über ihre Einstellungen zur Sexualität. Eine große Zahl der 1787 männlichen Jugendlichen wandte sich nicht besonders vehement gegen vorehelichen Sex. 65 Prozent sagten, daß sie ein Mädchen, das zuvor schon Sex hatte, "vielleicht akzeptieren würden." 40 Prozent hatten keine Meinung, 10 Prozent sagten, sie "werden akzeptieren."
Die Mädchen waren konservativer. 25 Prozent der insgesamt 3213 weiblichen Jugendlichen hatten keine Meinung dazu und nur 10 Prozent sagten, daß sie einen Jungen, der schon Geschlechtsverkehr gehabt hatte, "vielleicht akzeptieren würden." 26 von ihnen gaben zu, einmal oder mehrfach schwanger geworden zu sein, und es wurden insgesamt 31 Abtreibungen angegeben.
Elaine Sha (沙依仁), eine Professorin für Soziologie an der Nationalen Taiwan-Universität, macht ausländische, vor allem westliche Einflüsse und die Massenmedien für den Zusammenbruch der alten Moralität und für die neue sexuelle Freizügigkeit verantwortlich. Huang ist anderer Meinung und verweist darauf, daß die chinesische Gesellschaft von alters her über sexuelle Vergnügungen des Mannes außerhalb der Ehe als zu seinem normalen gesellschaftlichen Umgang gehörend hinwegsieht. "Wir können dafür nicht allein westliche Einflüsse verantwortlich machen", meint er.
Frauen wie Hsu Shen-shu von der "Homemakers' Union and Foundation" neigen andererseits eher zu der Ansicht, daß Sex für jemanden, der Sex haben möchte, gut ist, solange er oder sie sich schützen kann. Leider ist, wie sie anmerkt, eine große Zahl von Erwachsenen und Heranwachsenden gleichermaßen ahnungslos und sorglos in bezug auf Sex und Schutzmaßnahmen. "Sexualerziehung ist ein großer Mißerfolg auf Taiwan", stellt sie fest.
Unter diesen Umständen sind Schwangerschaften bei jungen Mädchen und Abtreibungen etwas Alltägliches geworden. (Es stehen keine Angaben über die Zahl der Abtreibungen auf Taiwan zur Verfügung, weil sie verboten sind. Nur verheiratete Frauen dürfen Schwangerschaftsunterbrechungen vornehmen lassen - und auch nur dann, wenn ihr Ehemann eine Einverständniserklärung unterschreibt.) Die Zahl unverheirateter Mütter und unehelicher Kinder hat gleichfalls zugenommen. "Vor zehn oder fünfzehn Jahren gab es auf ganz Taiwan nur drei Stätten, wo unverheiratete Mütter ihre Kinder zur Welt bringen konnten. Heute gibt es hier zumindest hundert solcher Einrichtungen", schätzt Sha. Dem Frauenzentrum Taipei zufolge gibt es jedoch nur sieben unabhängige und registrierte Organisationen, an die sich ledige Mütter für eine Geburt wenden können, alle anderen gehören zu privaten und religiösen Vereinigungen.
Viele Leute würden es gerne so sehen, daß die derzeitige Konfusion in den Beziehungen zwischen Mann und Frau in einer sich verändernden Gesellschaft nicht zu vermeiden ist und Taiwan hiervon keine Ausnahme sein kann. Sha und die Romanschriftstellerin Chu Hsiu-chuan bestehen darauf, daß es positive traditionelle Werte gibt, beispielsweise den der Jungfräulichkeit, die bewahrt werden sollten. Chu argumentiert sogar dagegen, daß Frauen um gleiche Rechte kämpfen. "Denken Sie mal darüber nach", argumentiert sie, "in unserer Gesellschaft bringen die Männer das Geld nach Hause und die Frauen verwalten es. Das gibt es in der westlichen Gesellschaft nicht."
Lee Yuan-chen von der "Awakening Foundation" sieht die Veränderungen mit anderen Augen an. Möglicherweise ist sie beherzter in ihrem Denken und bei der Umsetzung in die Tat als die meisten ihrer Zeitgenossen. Lee ist enschlossen, dereinst zu erleben, daß Frauen genauso wie Männer behandelt werden. "Frauen sind doch auch in gleichem Maße in der Lage, einen wertvollen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten", erklärt sie.
Hsu erwartet ein entspannteres Verhältnis zwischen den Geschlechtern. "Es geht mir nicht darum, mit den Männern zu konkurrieren", erklärt sie. "Ich möchte einfach Menschen sehen, die frei von Sexismus sind, ich möchte Männer und Frauen sehen, die harmonisch miteinander umgehen." Sie ist überzeugt, daß Männer und Frauen in ihren Beziehungen zueinander auf eine neutralere Ebene finden werden.
Mittlerweile fordern Frauenorganisationen wie "Awakening", "Warm Life", "Homemakers'" und "Modern Women" vehement von Abgeordneten, daß diese einige der Bestimmungen im Familien-, Scheidungs- und Arbeitsgesetz, die für Frauen ernsthafte Nachteile im bezug auf persönliche und berufliche Selbstverwirklichung bedeuten, überdenken und revidieren. Viele chinesische Frauen jedoch blicken weiterhin mit Mißbilligung auf solche Frauenorganisationen, obwohl diese ihre Forderungen auf eine Weise bekannt machen, die noch weit entfernt ist von den lautstarken Aktionen der Frauenbewegung im Westen. Demonstrieren, Skandieren von Parolen und Übergeben von Petitionen sowie freimütiges Äußern von nicht gerade althergebrachten Ansichten über Sex, Scheidung und Frauen werden immer noch als unfeminin und bedrohlich aufgefaßt.
Immerhin hat es den Anschein, als gäbe es einige Männer, die gerne vorbereitet wären, wenn dereinst die neue starke Frau zum Vorschein kommt. Die Sozialabteilung der Taipeier Stadtverwaltung plant die Einrichtung eines - so soll es heißen - "Instituts für Gentlemen". Es wird Programme zur Kultivierung des modernen chinesischen Mannes anbieten und ihm beibringen, wie man die Partnerschaft mit einer Frau auf einer vernünftigen und gleichberechtigten Grundlage begründet.
Huang Kuang-kuo hält sich jedoch mit Schlußfolgerungen zurück. Er heißt die Veränderungen willkommen, ist sich aber nicht sicher, ob der neuartige Feminismus bei Frauen und auch bei einigen Männern wirklich die Traditionen beeinflussen kann, die so lange das Verhältnis zwischen Mann und Frau definiert haben. "Traditionen sterben nur langsam", mahnt er.
(Deutsch von Martin Kaiser)
*Der Begriff, so erklärt Huang Ming-chien, Taiwans Autorin des aufsehenerregenden Bestsellers Tan-shen kuei-tsu über die Kunst des Singledaseins, stammt aus Japan, wo er sich auf weibliche Angestellte von über dreißig Jahren bezieht, die unverheiratet und ohne den Zwang, eine Familie ernähren zu müssen, mit ihrem regelmäßigen Einkommen im Gegensatz zum grauen Alltag der industriellen Massengesellschaft frei und in Luxus leben.
Auf Taiwan wurde der Begriff von einem Hersteller für Damenbekleidung als Markenbezeichnung aufgenommen, der dann auch noch die englische Übersetzung - "single noble" - kreierte. Das große Interesse der Massenmedien sowie die damals gerade aus den USA herüberschwappende Yuppie-Kultur haben zusammen zahlreiche junge Menschen zu ähnlichen Haltungen angeregt. Heute bezieht sich der Begriff in Taiwan auf Ledige beiderlei Geschlechts auch unter dreißig Jahren und mit einem regelmäßigen Einkommen, die sich eines freien Lebens erfreuen.